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Bargrīzān

Heimatlektüre

Gedanken über Fremdsein und Rastlosigkeit.

Heimatlektüre? Während des migrationsbedingten Kampfes für und wider die Heimat fallen auf allen Fronten unzählige stereotype Opfer. Gedanken werden ausgehoben wie Schützengräben im Vorgarten, die Fragen nach Identität und Heimat sind die Minenfelder zwischen unmöglichen Alternativen. Die Perfidität der Fragestellung liegt in der Konjunktion „oder“. Man wird gefragt: „Bist du schon Dies, eher Das oder noch Jenes?“ Dieses selbstverständliche „schon“ und dieses abreißende „oder“, vor allem: dieses überstülpende “noch”. Für eine adäquate Antwort gibt es meist weder Zeit noch Gehör. Helfende Hände ringen um letzte Strohhalme, ganze Rituale erfindet die deutsche Gesellschaft um alle in der Entfremdung zu beheimaten und in der Entwurzelung zu befrieden. Und selbst die schlagfertigsten Mitläufer im Marathon der Gewissenhaftigkeit erkennen nicht: Es ist eigentlich das Nicht-verwirklichen-wollen des Geistes, das die Krise fortdauern läßt. Tagtäglich wird die Besänftigung aller Albträume medienwirksam eingeläutet, die Schönfärberei wurde zur Kunstgattung erhoben, den Bürgern gibt man treffsichere Stichworte und Losungen an die Hand, aber hinter der hübschen Fassade leben wir und leiden unter der Geistlosigkeit.

Es wächst ein empfindliches Moos auf der Zunge des Bürgers. Behutsam bedeckt es die Unwissenheit, die unter seinen wohlmeinenden Worten in süßem Schlummer liegt. Tastet man es an, schreckt es mimosenhaft auf und sondert giftige Tautropfen ab. Die Farben der Feindbilder sind vor lauter Weichspüler längst verwaschen, die Menschen wissen nicht mehr, was sie tragen. Und wenn schließlich keiner mehr aus der Reihe tanzt, wird niemand mehr merken, wie lang die Schlange eigentlich ist. Hänschen und Gretel streuen heutzutage nicht Krümel, sondern Brote. Du aber wurdest wie sie nicht ausgesetzt, kannst den wahren Grund für deine Irrungen und Wirrungen lediglich dunkel erahnen. Fette verfressene Spatzen machen sich gierig über deine rettende Krümelspur her, die du dir in die mühsam imaginierte Heimat gelegt hast, vertilgen sie ohne Erbarmen und glotzen dich vorwurfsvoll an, staunend, weshalb dir solche nichtigen Krümelchen so wichtig sein konnten. Leere deine Taschen vollends, damit sie dich endlich in Frieden lassen. Du hast deinen eigenen Weg, so oder so.

Die Aura winkt zum letzten Mal: Mein Urgroßvater.

Die Erinnerungen platzen herein wie ungebetene Gäste, wie unliebsame Verwandte, oder, wie Dostojewskij es formulierte: “wie der Schnee über Nacht”. Wenn man in Gedanken verfällt, ist es plötzlich, als gäbe es keine Schwerkraft mehr. Ganz ohne Umlaufbahn treibt es einen umher, als wäre man ein Würfel in der Gauklerhand der Geschichte. Du fühlst es wie ein Brandmal auf der Stirn: irgendwie wird dieser hohe Einsatz ohne dein Einverständnis verspielt, du fällst und kippst von einer Seite auf die andere, von der Wahrhaftigkeit in den Ruin, vom Rand in die Gosse, und an deiner Oberfläche wird dein Wert abgelesen. Und immer wieder folgte die nächste Runde. Die Spieler haben ein feines Kalkül, aber rechnen nicht damit, dass die abgenutzten Würfel Ihresgleichen erkennen. Wenn sie nach dem Spiel noch eine Weile auf dem Tisch liegengelassen werden, während auf die Geselligkeit angestoßen wird, starren sie einander in die Augen, erahnen die Verworfenheit des Anderen, bevor sie wieder in die dunkle Kiste müssen. Manche sind bereits ganz verstummt, wie blinde Spiegel geben sie nichts mehr preis und stehen wie abgegriffene Figuren am Rande des Spielbretts als wären sie Mahnmale ihrer eigenen Niederlage. Sie bleiben ohne Sockel, ohne verzierte hübsche Gravuren, die kenntlich machen würden, wer sie eigentlich waren, und weshalb sie wohlmöglich viel bedeutungsvoller sind als die gewinnenden Steine, die immerzu so mühelos vorwärts preschen, von allen begehrt werden und ihre Besitzer glücklich machen. Was jenen der Siegesstolz ist, bleibt den Verworfenen als Ästhetik des Versagens eingeschnitzt. Warum neigt man zu vergessen, dass nur ihre Niederlage den Sieg der Anderen erst möglich machte? Im Marschrhythmus der eindimensional verwalteten Welt zieht das nicht-abreißende Getöse eines grotesken Triumphzugs an unseren müden Lidern vorüber. Dahinter ein von Drangsal geschärfter Geist, glühend wachend über das, was noch kommen mag.

Wer starrt hier?

Die unergründlichen Spielregeln des eigenen Lebenslaufs drängen sich uns auf, besonders wenn wir auf etwas warten, und wir warten verdächtig oft auf etwas. Genauer gesagt: Wir warten auf Alles oder Nichts, mal so, mal so. Die Gedanken hüpfen, die Zeilen springen vor den Augen. Verstohlen mischt sich ein süßlich-herber Duft aus der Kindheit ins Leben, als habe ein fremdes, doch erstaunlicherweise zahmes Tier uns angehaucht. Wie wir uns selbst auch ein Tier sind, besonders wenn wir unser Spiegelbild betrachten und uns vor unserem fremden Ich fürchten wie vor einer altertümlichen Gottheit. Wir wenden uns ab vom bohrenden Blick des Gewissens. Es läßt sich bloß für eine Weile abstreifen, aber bleibt uns auf den Fersen, heftet sich dicht an uns, ereilt uns plötzlich. Dann überkommt uns ein Hunger-ähnliches Gefühl, es läßt sich nicht verdrängen, es nagt, man beginnt innerlich nach etwas zu suchen.

Menschen, die das überkommt, schwelgen mit einem missmutigen Lächeln in Erinnerungen, es ist ein nagender Zustand. Der Genuss kann nie voll ausgekostet werden, es bleibt immer der Nachgeschmack eines Lebens im Dazwischen, im Trotzdessen, im ewigen „Warum nur?“, in einem auf immer bereits vergangenen Damals. Vielleicht ist es die bittere Köstlichkeit der Mühsal, die uns in die Wiege gelegt wurde. So ordentlich wir uns auch nach Außen hin geben, das Eigentliche an uns wird aufgesaugt wie überschüssige Tinte von Löschpapier. Auf dem Blatt steht fein leserlich unser Name, aber nicht mehr als das.

Wenn du Mich aber sammelst, sammelst du dich selbst.

Das Gedächtnis rast heran, es ist ein Eilzug mit Verspätung, wir sind gezwungen schnell einzusteigen, es bleibt keine Wahl, keine Zeit für Abschiedsworte, hastig tastet man nach einer Fahrkarte, als müsse man wie in einem Albtraum jederzeit seine Unschuld beweisen können. Der rasende Zug der Erinnerung katapultiert uns wie wild durchgestrichene Skizzen von Figuren eines nie veröffentlichten Romans in den schnöden Papierkorb der Gesellschaft. Diese Verworfenheit immerzu. Ob das nicht ebenfalls nicht viel mehr als eine betörende, aber typische und vergebliche Romantisierung ist?

Vor dem inneren Auge taucht ein Hauseingang auf, vertrauenswürdige Treppenstufen, die in Zimmer führen, in denen man das Leid und das Glück dieser Welt spielend leicht aneinander reihte wie Perlen auf eine Schnur. Vielleicht ist die Erinnerung etwas blaß, ja, sie läßt sich nur schwer für andere verständlich machen. Doch in deinen Tränen bricht der gleißend weiße Lichtstrahl aller Erinnerungen auf wie ein Prisma. Haarfein, Farbe für Farbe erkennst du dich. Ein Spektrum, das ganz Geheimnis bleiben muss um seine Wahrhaftigkeit zu bewahren. Ein Geheimnis, das nur denjenigen anvertraut werden kann, die es bereits kennen. Denn jedes Wort entstammt der Schönheit Meer, für volle Menschen voll, für leere Menschen leer.

Söylenen sözlerin cümlesi hoştur
Dolulara dolu boşlara boştur
(Edib Harabi, 1853-1917)

Dann, mit einem mal, bricht die Welt der Erinnerung zusammen, du stehst irgendwo in der Kälte und starrst vor dich hin. Alles scheint verflogen und verraucht. Wie ein verirrter Kranich fliegst du der verlorenen Schar einsam hinterher – dein Leben heißt Suchen. Die Anderen vermochten es, ihr Leben zu ergreifen, für sie scheint keinerlei Rastlosigkeit zu existieren, ihr Hasten und Eilen hat immer einen eindeutigen Sinn und Zweck. Ihre Messer sind geschliffen scharf und schneiden durch die Widrigkeiten des Alltags wie durch weiche Butter, aber dein Dolch ist matt und stumpf geworden, bleibt stecken, taugt zu nichts. Wie sagt man? Nicht das scharfe Messer ist gefährlich, sondern das stumpfe. Wie das wohl ist, eine klare Funktion zu haben, fragst du dich. Selbstverständlich weißt du, wie es sich anfühlt, gelobt und belohnt zu werden, wenn man seine Aufgabe erfüllt. Wenn man seine Sache gut macht. Wenn man tut, was von einem verlangt wird. Wenn man nützlich ist. Aber das ist nicht das gleiche, das war nie das, was du wolltest, sondern immer nur das, was die Anderen von dir wollten. Der Satz „Du wirst gebraucht“ erscheint dir in solchen Augenblicken erschreckend doppeldeutig.

Die Sonne steht im Löwen.

Ein trübseliger Dichter scheint dein Leben zu schreiben. Manchmal sind seine Verse so elegant und feinfühlig, dass die Strophe vollendet zu sein scheint, sie könnte an einem alten Tor prangen. Dann aber wiederum stolpert er in epischer Länge und Breite pathetisch von einem Wort zum nächsten, der Rhythmus ist hölzern, die Reime gelingen nur mühsam und erscheinen gesucht, das ganze wirkt wie der moderne billige Abklatsch eines unnachahmbaren Meisterwerks, der jederzeit von irgendeinem dahergelaufenen Idioten als unverschämte Fälschung entlarvt werden könnte. Entmummen kann man sich nur schwer, zu sehr ist einem die Rolle auf den Leib geschneidert, und das Abgerissene und Lumpenhafte nimmt man trotzig als verdiente Tragödie an. Wie eine alte Fotografie entwickelt man sich in einer kleinen dunklen Kammer. Ist die Tat vollbracht, tritt man hinaus in die Welt. Wie zur Tarnung fügt man sich in vielerlei Rollen. Man meistert sie spielend und spielt sie meisterlich. Und doch bleibt der Geruch des Milieus an einem haften. Heimatlos-sein, das heißt im Milieu, das will sagen: nicht in der Welt, sondern in der Umwelt zu leben.

Es gibt Momente, in denen jede Äußerung wirkt wie der Beginn eines Briefs aus dem Gefängnis. Die Deserteure wandern durch modernisierte Erinnerungen in Richtung dessen, was Zuhause war und finden auf dem Küchentisch den lange vergilbten Scheidungsbrief und Autoschlüssel. Vergesst die Philosophie, vergesst die großen Ideologien. Pantha rhei bedeutet lediglich, dass alles den Bach runter geht. Aber unter uns verwirrten verworfenen Würfeln am Rande des Spielfelds ist ein jeder des anderen Komplize, und diese Pflicht einander zu leisten wird das Maß aller Treue sein. Unser Leben? Ein Palindrom:

IN GIRUM IMUS NOCTE ET CONSUMIMUR IGNI
(in den Lichtkreis gehen wir nachts und werden dort vom Feuer verzehrt)

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By Vincent Vaessen

Student of Iranian Studies and currently student assistant at the Oriental Seminar of the University of Cologne.

2 replies on “Heimatlektüre”

Vielen Dank für den Kommentar und den Hinweis auf die DLF-Sendung zu Heimat als Utopie, die werde ich mir gerne anhören!

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