“Hari, hurra! Endlich haben wir diese Diktaturra!”, tönte es mit kräftiger, beinahe trillernder Stimme unter seinem weißgrauen Bart hervor. Unberechenbar wie er war, bekam er einen kurzen Lachanfall, trollte mit seinem gedrungenen Körper wie ein kleines Kind auf der Couch hin und her, stieß mich neckend mit seinen Ellenbogen. Nachdem er sich prustend freigehustet hatte, wurde er mit einem Male still, lehnte sich bequem in seiner Ecke zurück, nahm eine vornehme Haltung ein und legte den Kopf schief wie ein verunsichertes Geschöpf, das spielen möchte. Mit einem kindisch verstohlenen und zugleich frechen, messenden Blick schaute er mich an. Überhaupt schien er es zu lieben, Menschen zu beobachten, besonders wenn er bemerkte, dass er sie in Erregung versetzen konnte.
Die an den Nachbartischen sitzenden Cafébesucher schauten halb erschrocken zu uns herüber, steckten raunend die Köpfe zusammen, mieden augenscheinlich jede wirkliche Begegnung. Rasch wandten sie ihre Blicke ab, um ihre neugierige Verstörung zu verbergen. Angesichts eines so lauten Tischgastes schienen sie mich zu bemitleiden. Auch an der Bar war unsere kleine Zweierrunde nun bemerkt worden. Dort stand der Argwohn und die Lächerlichkeit vereint in einer Person: Ein in dieser Gegend beliebter Dandy mit Hornbrille und graumeliertem, jugendlich lässig drapiertem Haarschopf, was jedoch nichts daran zu ändern vermochte, dass er die 50 sichtlich passiert hatte und sich seit Jahren in der Kunst des Retuschierens übte. Seine etwas speckigen Hängebacken schienen eine faulende Dekadenz zu hamstern. Das kommt wohl davon, wenn man hier Eigentümer eines Ladens ist, der seit Jahren wie von selbst zu laufen scheint, und täglich mehrmals mit gekonntem Auftritt in die eigene kleine Goldgrube hineinschaut, um nach dem Rechten zu sehen und das Tagesgeschäft abzukassieren. Dabei im Mundwinkel stets eine nach wenigen kraftlosen Zügen mühselig nachglimmende Zigarette, eine Edelmarke, mit goldener Banderole und schimmerndem Silberaufdruck. Laute Gäste mit eindeutiger Meinung hatte er nicht gern, und wenn es ihm zu bunt wurde, konnte er sogar kurzerhand ein Hausverbot erteilen. Diese manchmal durchaus notwendige und effiziente, jedoch ebenso perfide Art der Bestrafung, war vor kurzem einem harmlosen Bücherwurm zuteil geworden, dem Begründer der sogenannten Leberwurstphilosophie, einem Stadtpoeten sondergleichen, einem verstohlenen Sammler der raunenden Geschichten dieses Viertels, der sich die Chance nicht hatte entgehen lassen, dem ausgedienten Dandy einige unwillkommene Widerworte vor die Füße zu werfen, als dieser versuchte, ihn wieder einmal herumzukommandieren.
Doch meinen lauten Tischgast – oder war er der eigentliche Gastgeber? – ließ man vorerst noch gewähren. 65 Jahre mochte er wohl sein, doch vielleicht irre ich mich darin. “Hari, hurra!”, rief er wieder laut aus, sah sich verschmitzt nach allen Seiten um, warf gekonnt einen Augenaufschlag in Richtung Bar, duckte sich wie vor einem Steinwurf, und sagte dann leise, als herrsche im Lokal eine scharfe Zensur und als sei diese Information verboten: “Weißt du, wer das gesagt hat?“ In seiner Erwartung lauerte bereits seine Antwort, wobei sein Gesichtsausdruck der eines milde gealterten, wohlwollenden Lehrers war. “Jaaa.. weißt du denn nicht, wer das gesagt hat? Hari, hurra, endlich haben wir diese Diktaturra! Jaaaa, das hat Nâzım Hikmet gesagt, jahaa! Das muss man wissen, und so ist das auf dieser Welt, es war immer so!” Er lachte in sich hinein. “Jahaaa, es wird immer so sein! Wir kennen doch die Wahrheit schon, die kennen wir schon lange! Schon laaangeee! Jaaa… Du brauchst nicht zu lügen… Ich sehe das doch alles. Nackt geboren sind wir alle. Was ist denn dieses Gesicht? Wer bist du denn?” Er strich sich mit der linken Hand quer über Stirn, Nasenrücken, Mund und Kinn. “Warum lügst du denn, du Verräter? Ich weiß doch, dass Du Täter bist! Hahaa!” Ich stutzte, war verunsichert. Wer war hier gemeint, zu wem sprach dieser Mann? Mir dämmerte, dass nicht ich es sein konnte, zu dem er so sprach. Oder doch ich? Nein, er redete keine Person an, sondern vielmehr eine übermächtige, unsichtbare Präsenz. Und diese übermächtige Präsenz schien er keineswegs zu fürchten. “Eine Kakerlake bist du! Ein Nichts!“ Mich überkam ein Unbehagen und ich versuchte zu sagen: „Aber ich meinte doch nicht…“ Da rief er aus: „Aaach, nicht DU, Mensch! Ich meine doch nicht DICH! Du brauchst hier doch nicht deine Persönlichkeit mit reinzubringen, das habe ICH ja auch nicht gemacht. Neeeein, Meeensch! … Ach, wo waren wir… Jaaaaa, es ist so: Du kannst doch das Geheimnis gar nicht verstehen, du hast nur deine Hunde überall, seit tausenden von Jahren, jaaa, die arbeiten für dich! Die haben alles geklaut, alles gestohlen haben sie! So ist das. Lange schon wissen wir das. Davon leben sie! Davon LEBEN sie!! Aber ich lache darüber, ich LACHE darüber!” Da brach es aus ihm hervor, wieder dieses laute, herzliche Lachen wie über einen köstlichen Witz. Keinerlei Groll oder Harm lag darin, nein, im Gegenteil, er war in der Tat ausgelassen fröhlich. Voll schöpferischer Heiterkeit kugelte er sich in seine Ecke.
Als er sich wieder gefangen hatte, nahm er auf merkwürdige Weise, nämlich beiläufig und demonstrativ zugleich, unbemerkt einen Schluck Kaffee aus der halbvollen Tasse eines fremden Tischgastes. “Mmmh, gut, guuut schmeckt das!“ Er schmatzte wie zum Beweis. „Aber ich kann auch DAS machen!” – es klang wie eine Ankündigung -, er griff nach dem Bier, das er mir bestellt hatte, nahm einen tüchtigen Schluck und wischte sich den Schaum mit seinem sichtlich erfahrenen Handrücken aus dem dichten Schnurrbart. “Mmmhh, guuut, jaaa, das ist auch gut!” Ein paar verirrte Schaumbläschen flogen mir in die Wimpern und auf die Wangen. Wieder hatte er sehr laut gesprochen, und die Tischnachbarn rollten mit den Augen ohne den ersehnten Blickwinkel zu erreichen.
Und wieder lehnte er sich plötzlich in aller Stille zurück, schlug die Beine übereinander und blinzelte mich aus dieser Pose lächelnd an. Auch ich lächelte, unwillkürlich, hielt allerdings seinem eindringlichen Blick nicht lange stand. Freundlich, doch in seiner Unberechenbarkeit, vor allem jedoch wegen meines Nichtvorbereitetseins furchterregend. Ich starrte vor mich hin, auf den niedrigen Tisch mit den Tassen, Gläsern und Flaschen. Er schien zufrieden zu sein und griff über den Tisch nach dem Tabaksbeutel seines schweigsamen Begleiters, der unbeirrt seine breitgefächerte Zeitung las.
Er begann, sich mit voller Konzentration eine wuchtige, geradezu unverschämt korpulente Zigarette zu drehen, die sich kaum rollen ließ. Als er zu schmauchen anfing, kam mir die Lust, ebenfalls zu rauchen, und ich fragte (viel zu zaghaft), ob ich mir von seinem Tabak eine drehen dürfte. Als habe man ihn beleidigt, murmelte er ärgerlich: “Nicht fragen! Mensch! Das ist doch deins! Bitte nicht fragen, Mensch! Du brauchst nicht zu fragen, bitte…”, und schob mir mit läppischer Geste, ohne aufzusehen, den Tabaksbeutel zu. Als ich mir eine bemessene Zigarette gedreht hatte und sie, nach dem Feuerzeug suchend, für eine Weile am Aschenbecher ruhen ließ, legte er seine eigene Zigarette ab und nahm sich meine frisch gedrehte. „Siehst du? So ist das, jaaa…“ Er kramte sein Feuerzeug hervor und zündete sie sich an. „Wir wissen schon alles, seit langem schon. Denn das ist das Leben! Kennen wir schon.“ Er nahm einen deftigen Zug. Dann machte er eine den Tisch streifende Geste. „Hier, rauch doch Mensch!“ Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und blickte stur bis ans Ende des Raums. Ich sah zum Zeitungsleser hinüber, der sich mittlerweile vollständig verschanzt hatte und gerade einem zerknitterten Portrait Erdoğans auf der Titelseite in die Backe kniff.